Geistliche Impulse
Die Herrnhuter Tageslosung
Bad Homburg, 11.05.2020 13:54 Uhr

Stunde 0: 1945 und 2020

Andacht von Dr. Tobias Krohmer, Referent für Gesellschaftliche Verantwortung

Am 8. Mai 1945 um 23:01 Uhr endete in Deutschland der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation. Für die dann folgende Zeit wurde das Schlagwort der „Stunde 0“ geprägt. Die, die es aufbrachten, wollten darauf hinweisen, welche Chance im totalen Niedergang der Nazidiktatur gelegen habe: die Chance auf einen völligen gesellschaftlichen und politischen Neuanfang, die dann aber mit der Wiederherstellung traditioneller Verhältnisse in der Adenauerzeit verspielt worden sei. Genau 75 Jahre später möchte ich das Schlagwort aufgreifen und auf die aktuelle Situation anwenden. Auch wir befinden uns in einer Stunde 0.

Die Pandemie hat die bisherige Normalität außer Kraft gesetzt. Die Lage wird allgemein als surreal empfunden. Manche erleben sie gar als Alptraum. Nach der anfänglichen allgemeinen Schockstarre mehren sich Forderungen nach einer Rückkehr zum Leben, wie es vorher war. Dabei gewinnt die gesellschaftliche Debatte an Schärfe. Zunehmend scheint man Partei ergreifen zu müssen: entweder uneingeschränkt für die ergriffenen Maßnahmen oder bedingungslos gegen sie. Man kann offenbar auf gar keinen Fall mehr für beides zugleich sein: für den Schutz von Risikopersonen und für die Wahrung der Freiheitsrechte der übrigen Bevölkerung. Immer polemischer wird die Frage diskutiert, was schwerer wiege, was verfassungsmäßig den höheren Rang genieße bzw. was man eher opfern könne.

Mir drängt sich angesichts dessen eine ganz andere Frage auf: Wird hier nicht unglaublich viel Energie verschwendet? Energie, die konstruktiver genutzt werden könnte? Auf die Überlegung etwa, ob die Unerträglichkeit der Ausnahmesituation ihren Grund schon in der alten Normalität findet. Wer jetzt abgehängt wird, konnte doch womöglich vorher schon kaum mithalten. Wer sich jetzt verlassen und einsam fühlt, litt wahrscheinlich vorher schon unter einem Mangel an Kontakten. Wer jetzt darüber verzweifelt, wie sie (!) Familie und Beruf vereinbaren kann, war vermutlich vorher schon am Rande ihrer Belastungsgrenze angelangt.

Vielleicht werden wir jetzt einfach darauf gestoßen, dass unser bisheriges Leben alles andere als fair, alles andere als gerecht, alles andere als für alle gut organisiert war. Und vielleicht bekommen wir so eine Chance. Die Chance, alles zu überdenken, alles in Frage zu stellen, den Mut zu haben, eine ganz andere Welt zu erträumen und zu ersinnen. Eine Welt, die fairer, gerechter, besser für alle wäre. Eine Welt, in der z. B. beides ginge: Leben zu schützen und Freiheit zu leben.

Gibt’s nicht? Kann es nicht geben? Als Christ sehe ich das anders. Im Matthäus-Evangelium macht Jesus die Zusage: Wenn wir nur einen winzigen Funken Glauben in uns tragen, dann ist uns nichts unmöglich, dann können wir Berge versetzen. Deshalb: Wenn jetzt die Stunde 0 ist, wenn jetzt etwas ganz Neues beginnen kann und wir daran glauben, dass wir fähig sind, mit diesem Neuanfang etwas Besseres als das Vorherige auf den Weg zu bringen, dann können, nein, dann werden wir das auch schaffen. Einem solchen Glauben sollten wir uns hingeben. Davon bin ich überzeugt. Denn dann werden künftige Generationen auf diese Stunde 0 schauen und sagen: „Da hat es angefangen, da hat sich alles verändert – und zwar zum Guten.“
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Dekanat Bad Homburg Evangelisches Dekanat Hochtaunus, Dekanat Bad Homburg

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