Bad Homburg, 21.09.2021 11:45 Uhr
"In der Nachbarschaft"

Andacht von Claudia Biester (stellvertretende Dekanin Dekanat Hochtaunus)
Jeder kennt die alte Frau, die dort in der kleinen Straße wohnt. Zuerst fällt es einem gar nicht so auf, aber wenn man drei-, viermal an ihrem Garten vorbeigegangen ist, weiß man: sie ist eigentlich immer da. An ihrer Auffahrt zupft sie welke Blätter von den Blumen; sie fegt Treppe und Hof und grüßt Vorbeigehende. Hin und wieder unterhält sie sich mit Leuten über den Gartenzaun. Ein alter Gartenstuhl steht an der Garage, dort sitzt sie gern. Auf der anderen Straßenseite ist ein Spielplatz. Die Kinder, die dort spielen, kennt sie, seit sie im Kinderwagen vorbeigeschoben wurden. Für die Älteren hat sie Bonbons in der Schürzentasche, und sie schimpft laut über die Straße hinweg, wenn gegenüber Quatsch gemacht wird. Sie hat eine Aufgabe. Man könnte auch sagen, sie knüpft unentwegt Kontakte. Das Leben vor ihrer Haustür interessiert sie einfach. Sie wohnt übrigens bei ihrem Sohn und seiner Frau. „Bei meinen Kindern“, sagt sie. Oft sind die Urenkelchen zu Besuch, dann wird gemeinsam im Garten gespielt und anschließend gegrillt. Sie gibt den Ton an, jedenfalls bei allem, was draußen passiert. Dort, in Garten und Hof, ist auch ihr Sohn zugange. Ihn schickt sie zum Rasenmähen und sagt ihm, dass die Gartenhütte auch mal wieder zu streichen wäre.So war das lange, eigentlich bis vor ein paar Monaten. Dann ist die alte Frau ist gestorben. Es kam nicht plötzlich, sie war wirklich alt. Zwei Jahre zuvor schon ist ihre alte Freundin gestorben, eine Freundin aus Schultagen, das hat sie mal erzählt. Die beiden haben viel zusammen gemacht, eigentlich das ganze Leben lang. „Wenn man alt wird“, sagte sie ohne Nostalgie, „muss man eben damit leben, dass vertraute Beziehungen enden.“
Es ist noch eine Zeitlang so, dass man unwillkürlich nach ihr Ausschau hält, wenn man durch die Straße geht. Merkwürdig ist das mit dem Erinnern. Als spürte man darin für einen Moment die Befristung menschlicher Lebenszeit. Manchmal wird man in der Erinnerung sogar berührt von der Frage nach dem eigenen Verhalten zum Unverfügbaren. Vielleicht, weil man bemerkt, dass Leben mehr ist als das, was sichtbar ist und was der Einzelne dazu beitragen kann.