Andacht von Pfarrer Michael Tönges-Braungart (Dekan Evangelisches Dekanat Hochtaunus)
Der Frühling erwacht wie in jedem Jahr, und die Osterglocken in unserem Garten blühen. Aber Ostern ist in diesem Jahr anders, als wir uns das wünschen - zum zweiten Mal schon.Seit über einem Jahr kommen sich viele so vor, als hätten sie immer einen Rucksack voller schwerer Steine mitzuschleppen. Unbeschwert zu sein, gelingt seltener als früher. Die Leichtigkeit ist abhandengekommen. Und für manche ist die Last dieses Jahres nahezu unerträglich geworden. Gerade deswegen brauchen wir Ostern.
Die Ostergeschichte in der Bibel beginnt mit einem schweren Gang. Am frühen Morgen machen sich zwei Jüngerinnen von Jesus auf zu seinem Grab. In diesem Felsengrab, hinter einem schweren Stein, liegt ein geliebter Mensch begraben. Ein Gang wie mit einer schweren Last auf den Schultern. Trauer und Schmerz, Resignation und das Gefühl von Ohnmacht – das lastet auf ihnen. In diesem Grab und hinter diesem Stein, da liegen für sie mit Jesus auch Hoffnungen begraben. Jesus war so lebendig gewesen. Und er hatte Menschen lebendig gemacht und Hoffnung in ihnen geweckt. Viele hatten durch ihn Freude und Lebensmut gewonnen, hatten auf einmal gespürt, wie sich der Himmel anfühlt; hatten gespürt, was das heißt: geborgen in der Güte Gottes zu leben und zu feiern. All das ist nun hinter einem Stein verschlossen.
Die beiden Frauen möchten Abschied nehmen. Aber sie wissen nicht, wie sie den Stein vor dem Grab bewegen können. Er ist zu groß und zu schwer für sie. „Wer wälzt uns den Stein vom Grab?“ – das ist ihre Frage.
Wer wälzt mir den Stein von meiner Seele? Das fragen sich viele heute.
Mancher Stein auf der Seele hat einen Namen: Angst, Einsamkeit, Ohnmacht, Trauer …
Vielleicht hat der Stein auch noch ganz andere Namen, die jede und jede nur selbst kennt.
Wer wälzt uns diese Steine von der Seele?
Die Ostergeschichte in der Bibel erzählt: Als die beiden Frauen am Ostermorgen zum Grab kom-men, ist der Stein weggewälzt. Und daneben steht eine leuchtende Gestalt, die sie anspricht: „Fürchtet euch nicht! Jesus ist nicht hier. Gott hat ihn auferweckt!“
Wie der Stein von dem Grab weggewälzt worden ist, so können auch Steine von der Seele weggenommen werden! Gott hat Jesus auferweckt. Wir wissen nicht, wie sie geschehen ist, die Auferweckung Jesu. Die Ostergeschichten der Bibel verlieren darüber kein Wort.
Was wir wissen, ist: Die Frauen und dann auch die anderen Freunde Jesu haben es geglaubt und vor allem erfahren: Er ist auferstanden! Er ist lebendig und er macht lebendig!
Wie der Stein vom Grab weggewälzt war, so begannen an Ostern auch die Steine von ihrer Seele zu fallen. Hoffnung blühte auf!
Sie haben es weitererzählt: Was Jesus gesagt und getan hatte, wie er gestorben war und wie auch ihre Hoffnungen mit ihm gestorben waren. Und wie Gott ihn zu neuem Leben erweckt und dadurch neue Hoffnung in ihnen geweckt hatte. Das alles haben sie weitererzählt, und vor allem: Sie haben so gelebt, dass man es an ihnen merkte.
Das ist die Botschaft von Ostern: Die Last der Steine muss uns nicht erdrücken. Gott will sie uns von der Seele wälzen. Wir können wieder frei atmen, Hoffnung blüht auf und Freude leuchtet.