Bad Homburg, 13.07.2020 15:34 Uhr

Und wer ist Dein „Nächster“? Kennen Sie diese Geschichte?

Andacht von Dr. Tobias Krohmer

Auf dem Weg von Neu-Anspach nach Dorfweil wich eine Autofahrerin in der Dämmerung einem Reh auf der Straße aus und fuhr gegen einen Baum. Sie war verletzt und konnte sich nicht aus dem Wagen befreien. Eine Pfarrerin fuhr vorbei. Sie war in Eile: Sie war unterwegs zu einer trauernden Familie, in der eben ein Kind gestorben war. Auch ein Arzt hielt nicht an. Er war spät dran. Er fuhr zu einer alleine lebenden älteren Dame, bei der er jede Woche zur Routineuntersuchung vorbeischaute. Der Arzt wusste: Für die ältere Dame war sein Besuch das soziale Highlight der Woche. Wie die Pfarrerin dachte er: „Hier kommen viele Autos vorbei. Es wird bestimmt gleich jemand helfen.“

Aber es kam sonst niemand und die Frau blieb verletzt im Auto eingeklemmt. Das änderte sich erst, als ein in der Gegend bekannter, ja, berüchtigter Politiker von einer rechtspopulistischen Partei hielt. Als er die verletzte Frau im Wagen sah, war er erschüttert. Er rief sofort die Polizei und einen Krankenwagen. Er zog die Frau vorsichtshalber nicht aus dem Wagen, sondern blieb bei ihr und sprach beruhigend zu ihr, bis die Hilfskräfte da waren.

Haben Sie die Geschichte erkannt? Hat sie Sie erstaunt? Oder sogar schockiert?

Nun, dann ging es ihnen wie demjenigen, dem Jesus die Originalgeschichte im Lukasevangelium erzählt, um zu verdeutlichen, wer der „Nächste“ ist, von dem es heißt, man solle ihn lieben wie sich selbst. Jesus erzählt die Geschichte einem Juden und bittet ihn, sich in den Hilfsbedürftigen hineinzuversetzen. Dass der Hörer dabei nicht umhin kommt, nicht einen Glaubensbruder als den „liebenswerten“ Nächsten zu identifizieren, sondern einen Samaritaner, den Angehörigen einer zwar jüdischen, aber vom damaligen „Mainstream-Judentum“ verachteten Gruppe – das ist der Witz der Geschichte. Der Witz der Geschichte ist, dass sie zur Einsicht zwingt: Ob ein Mensch mein Nächster ist, hängt nicht davon ab, ob ich ihn mag oder ob er mir genehm ist; auch die, die mir unangenehm sind, die, die ich womöglich überhaupt nicht leiden kann, können mir zu Nächsten werden. Die Geschichte verlangt von uns nicht, alles richtig zu finden, was andere sagen oder tun, sondern sie bringt uns zu der Erkenntnis: Egal, wie oder was ein Mensch ist, er verdient, als das angenommen zu werden, was er grundsätzlich ist – als ein Mensch.

Ich habe die Geschichte so erzählt, dass sie für mich diese Botschaft zum Ausdruck bringt. Dass sie für mich so zur Herausforderung wird wie für den ursprünglichen Hörer. Für andere müsste sie anders erzählt werden: für einen Rechtspopulisten so, dass der Helfende ein Drogendealer mit arabischen Wurzeln ist; für einen Drogendealer mit arabischen Wurzeln so, dass eine Polizistin Hilfe leistet; für eine Polizistin so, dass eine Linksautonome hält; und für eine Linksautonome so, dass ein Bankmanager zum Retter wird.

Und für Sie? Wie müsste die Geschichte für Sie erzählt werden? Wer wäre für Sie der „Nächste“?